Weiterer Brief des Naturschutzbeirates vom 12. Februar 2021
Sehr geehrte Frau Stadträtin, sehr geehrter Herr Stadtrat,
als Naturschutzbeirat der Stadt Weimar (NSB) sind wir ein von der Stadt berufenes und diese in Naturschutzfragen beratendes Gremium ehrenamtlich tätiger Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichen fachlichen Expertisen.
Der Beirat hatte am 06.11.2020 wegen der aktuellen Entwicklungen zum ehemaligen EOW-Gelände an den Weimarer Oberbürgermeister geschrieben und ihn aufgefordert, an dem seit 30 Jahren verfolgten Ziel des vollständigen Rückbaus aller Gebäude (einschließlich Wiederherstellung der Geländehöhe vor dem Bau des Interhotels in den 1980er Jahren) festzuhalten.
Am 15.12.2020 gab es zu diesem Schreiben ein persönliches Gespräch zwischen Frau Dr. Kolb und zwei Vertretern des NSB und am 15.01.2021 die schriftliche Antwort des Oberbürgermeisters. Beide Schreiben sowie eine Zusammenfassung des Gespräches mit Frau Dr. Kolb finden Sie im Anhang zum vorliegenden Brief.
Wie Sie den Ausführungen von Oberbürgermeister Kleine entnehmen können, will die Stadtverwaltung trotz aller Bedenken an dem Plan festhalten, das Gelände südlich des Steinbrückenweges an die Firma Hartung & Ludwig, die eine Nutzung durch Umbau eines noch vorhandenen Gebäudes anstreben, zu verkaufen.
Wir wenden uns nun deshalb an Sie als Stadträtinnen und Stadträte, da letztendlich Sie die Pläne der Stadtverwaltung beschließen oder ablehnen können. Unsere fachlichen Argumente finden Sie in unserem Schreiben vom 06.11.2020 (s. Anhang); sie sollen hier nicht wiederholt werden.
Zu dem Antwortschreiben des Oberbürgermeisters nehmen wir wie folgt Stellung:
Der Oberbürgermeister bestätigt einerseits alle unsere Argumente: Für eine gute Frischluftversorgung, einen optimalen Hochwasserschutz und einen bestmöglichen Biotopverbund ist der vollständige Rückbau der Gebäude des EOW-Geländes die beste Lösung. Allerdings bittet er uns am Ende seines Briefes um „Verständnis, dass auch andere Belange zu berücksichtigen sind“. Leider werden diese „anderen Belange“ nicht benannt. Einzig die derzeit nicht mögliche Finanzierbarkeit des Rückbaus wird erwähnt. Das ist für uns eine in keiner Weise ausreichende Begründung für die Abkehr vom Ziel des zuvor geplanten vollständigen Rückbaus. Auch in den letzten 30 Jahren war die Finanzierung immer schwierig. Dennoch ist heute mindestens 50% dieses Weges geschafft. Mit dem Abriss einer der drei großen Hallen (als Ausgleich für den baulichen Eingriff in die Ilm-Aue für das Regenwasser-Rückhaltebecken am Hundesportplatz) ist ein weiterer Schritt bereits fest eingeplant.
Vor dem Hintergrund, dass seit 30 Jahren naturschutzrechtliche Ausgleichsmaßnahmen in das ehemalige EOW-Gelände geflossen sind, halten wir den Erhalt eines großen Gebäudes mit einem vollständig umgebenden Parkplatz für eine unnötige und nicht zu akzeptierende Entwertung der bisherigen Renaturierungsmaßnahmen. Das Argument von OB Kleine, dass es auch nördlich des Steinbrückenweges eine Engstelle im Biotopverbund gibt, spricht zudem gerade dafür, südlich des Steinbrückenweges diese Barriere vollständig aufzuheben und nicht noch zu vergrößern.
Naturschutz hat meist nur ein schwaches Gewicht in der Politik. Immer wieder haben wir dies als Naturschutzbeirat erfahren. Die Ausgleichsmaßnahmen gehören zu den wenigen größeren Projekten, die bislang für den Naturschutz in unserer Stadt durchgeführt wurden, praktisch handelt es sich hier jedoch nur um das gesetzlich geforderte Minimum. Jetzt soll nun das einzige große Naturschutzprojekt im Stadtzentrum von Weimar in seinem Kern ausgehöhlt werden.
Seit Beginn der Corona-Krise wurde oft darauf hingewiesen, dass die drei großen Umweltkrisen der Gegenwart – Klimawandel, Artensterben, Virusmutationen (Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS, Corona) – im Zusammenhang stehen. Wann will die Stadtpolitik in Weimar dieser Erkenntnis Rechnung tragen und zusätzlich zum gesetzlich geforderten Minimum einen wirksamen Naturschutz voranbringen? Der Stopp des vollständigen Rückbaus der Gebäude des EOW-Geländes ist das Gegenteil der derzeit notwendigen Maßnahmen.
Die Ursachen des Artensterbens, auf den wir als NSB besonders hinweisen, sind sicher vielfältig.
Gar nicht oder schlecht vernetzte Biotope sind ein wesentlicher Grund. Beispielsweise gab es bis Ende des 19. Jahrhunderts in der Ilm in Weimar Lachse. Die Flussbereiche um Weimar werden auch heute noch als potentielle Laichbereiche des Lachses eingeschätzt (s.im Internet unter Durchgängigkeitskonzept Ilm (PDF) Seite 10). Der Lachs starb aus, weil immer mehr Wehre entlang des Flussverlaufes zwischen Weimar und der Elbe-Mündung hinter Hamburg errichtet wurden. Es war nicht ein einzelnes Bauwerk, es war die Summe von vielen einzelnen Barrieren.
Heute fehlen von 20 typischen, früher vorhandenen, Fischarten der Ilm im Bereich Weimar bereits 10. Von 8 Arten der Froschlurche sind 3 lokal ausgestorben (Kreuzkröte, Wechselkröte, Gelbbauchunke), 3 weitere Arten kommen nur noch vereinzelt vor (Seefrosch, Teichfrosch und Laubfrosch). Nur zwei Arten (Grasfrosch und Erdkröte) sind noch häufiger anzutreffen.1 Aber auch ihre Bestände haben in den letzten 10 Jahren deutlich abgenommen. Dennoch ist der Schutz der Amphibien noch immer wesentlich von Freiwilligeneinsätzen der Umweltverbände abhängig und wird nicht als eine Daseinsaufgabe von der Stadt ordentlich finanziert und durchgeführt.
Bei anderen Tier- und Pflanzengruppen ist die Situation ähnlich dramatisch. Es ist nicht das Aussterben einer einzelnen Art, die zum Kollabieren von Ökosystemen führt, es ist die Summe des Verlustes vieler einzelner Arten.
Ziel einer Naturschutzpolitik in Weimar sollte es sein, für jede einheimische Art das Überleben zu sichern und für jede hier ausgestorbene Art Maßnahmen für deren Rückkehr zu ergreifen. Dazu ist eine gute Vernetzung ihrer Lebensgemeinschaften (Biozönosen) notwendig.
Im Weimarer Stadtgebiet fehlen insbesondere Feuchtbiotope. Die EG-Wasserrahmenrichtlinie fordert von allen Mitgliedsstaaten, einen guten ökologischen und chemischen Zustand der Gewässer bis spätestens 2027 zu erreichen. Dafür gibt die EU und das Land Thüringen viel Geld aus. Alle Wehre in der Ilm werden mit Aufstiegshilfen versehen oder rückgebaut. Es werden Flächen angekauft um diese Maßnahmen umsetzen zu können. Insbesondere Überschwemmungsflächen, wie sie auf dem ehemaligen EOW Gelände entstanden sind und entstehen werden, bieten vielfältige Feuchtbiotope, die für eine Flussaue typisch sind.
Das Artensterben ist kein Vorgang, dem wir ausgeliefert sind. Wir können etwas dagegen tun. Vor diesem Hintergrund ist der vollständige Rückbau aller Gebäude im ehemaligen EOW-Gelände eine einmalige Chance. Die Stadt hat die Flächen für diesen Zweck für viel Geld von der Treuhand erworben. Wird jetzt ein Teil der Fläche privatisiert, vergeben wir diese Chance. Schlimmer noch: Damit wirken wir auch den Maßnahmen der EU und des Landes Thüringen zur Verbesserung der Flussauen entgegen.
Es gibt derzeit Beobachtungen, dass einige früher typische – aber im Verlauf der letzten 150 Jahre verschwundene – Tierarten versuchen, nach Weimar zurückzukehren und wir hoffen, dass diese hier zur Reproduktion kommen:
In den letzten Jahren hat sich der Biber wieder im Stadtgebiet angesiedelt. Potentiell können diese Tiere den Strukturreichtum der Flussaue erhöhen (s.im Internet unter. „Biber – ein Baumeister als ‚Ökoingenieur‘“ ). In den 1990ger Jahren konnten vereinzelt Bruten vom Kiebitz registriert werde. Auch wurde im Jahr 2019 ein Storchenpaar in Ehringsdorf gesichtet.
Uns ist klar, dass die Stadtpolitik viele Interessen ausgleichen muss. Wir haben aber kein Verständnis dafür, wenn Gewerbe einseitig gegenüber Naturschutz bevorzugt wird. Mit der Ausweisung von Gewerbegebieten gingen in der Vergangenheit bereits wertvolle Biotope in Weimar verloren. Völlig unverständlich ist es, wenn diese Flächen dann von den Firmen, für die der Raum geschaffen wurde als unattraktiv angesehen werden: die Firma Hartung & Ludwig weigert sich, einen Standort in einem Gewerbegebiet der Stadt auch nur in Erwägung zu ziehen.
Sie als Stadträtin und Stadtrat haben eine Flächennutzungsplanung für Weimar beschlossen. Ist der Erhalt eines Unternehmens, das sich nicht an diese Vorgaben halten will, es wirklich wert, das einzige große Renaturierungsprojekt im Stadtgebiet Weimars aufzugeben? Wir bitten Sie dringend, die Privatisierung von Grundstücken des ehemaligen EOW-Geländes abzulehnen. Bitte setzen Sie sich für einen optimalen Hochwasserschutz, den beschriebenen Biotopverbund und eine ungehinderte Frischluftschneise ein, damit Weimars Bürger und Gäste in einem gesunden Lebensraum mit guten klimatischen Bedingungen leben können.
Gern beantworten wir weitere Fragen von Ihrer Seite (bitte an folgende Adresse: lcmaul@gmx.net). Sie können den Naturschutzbeirat jederzeit auch bei anderen Themen um eine Stellungnahme bitten.
Mit freundlichen Grüßen
gez. folgende namentlich genannte Mitglieder des Naturschutzbeirates der Stadt Weimar
- Dr. L.C. Maul
Naturschutzbeauftragter, Fachgebiet Fledermäuse, stellv. Vorsitzender Naturschutzbeirat - S. Pfütze, M. Krause
Grüne Liga - J. Bock
Thüringer Forstamt - R. Bouska, U. Richstein
BUND - Dr. H. Brunnemann
Naturschutzbeauftragte, Fachgebiet Mauersegler - C. Dönnecke, M. Schüffler
Landesanglerverband Thüringen - B. Fröhlich, B. Geyersbach, T. Pfeiffer
Fachgruppe Ornithologie - J. Hagemann, R. Hübener
Arbeitskreis Heimische Orchideen - A. Lerch
NABU - S. Schauer
Naturschutzbeauftragter, Fachgebiet NSG „Südhang Ettersberg“ - G. Thierfelder
Naturschutzbeauftragter, Fachgebiet Hornissen - G. Vogel
Landesjagdverband
1 Die Fauna Weimars und seiner Umgebung, C.Arenhövel, E.Jahn, L.C.Maul, W.Zimmermann
Ich unterstütze voll und ganz die Replik des Weimarer Naturschutzbeirates vom 12. 02. d.J. , gerichtet an den Weimarer Oberbürgermeister.